Analyse

15. Dez. 2025

Anatomie der Anti-Zeitenwende

Konturen einer AfD-Außenpolitik
Jacob Ross
Abgeordnete der AfD heben die Hand bei einer Abstimmung
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Wird über die AfD gesprochen, geht es meist um Themen wie Zuwanderung und innere Sicherheit. Außenpolitischen Analysen der Partei bleiben oberflächlich, Einordnungen wie etwa „anti-europäisch“ oder „pro-russisch“ werden nicht ausgeführt. Die vorliegende Auseinandersetzung mit Denkern und Ideen, die die AfD und ihr Parteivorfeld inspirieren, möchte dazu beitragen, diese Lücke zu füllen. Und sie zeigt, dass die Partei international nicht so isoliert dasteht, wie die deutsche Debatte häufig suggeriert.

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Interessen statt Werte: Deutsche Außenpolitik soll sich künftig nicht mehr an Werten, sondern vor allem an (nationalen) Interessen orientieren. Damit gleicht die AfD-Position der Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft.
Multipolare Weltordnung: Das Abwenden von der Idee des kollektiven Westens des 20. Jahrhunderts bereitet für die AfD den Weg in eine zukünftig multipolare Weltordnung. Die Partei sieht in dieser Veränderung Chancen – auch für Deutschland.
Wider den Universalismus: Die ersten beiden Punkte bestärken viele AfD-Vordenker und Politiker in ihrer Ablehnung universeller Ansprüche in der internationalen Politik. Sie passen damit zu einer auch im Westen wachsenden postliberalen Strömung.
Zwischen MAGA und Putin: Die aggressive Infragestellung der internationalen liberalen Ordnung durch die aktuelle US-Regierung stellt bisherige außenpolitische Gewissheiten der AfD in Frage. Hier schwelt ein innerparteilicher Richtungsstreit. 

Executive Summary

Die deutsche Politik sucht weiter nach einem Umgang mit der Alternative für Deutschland (AfD). Debatten konzentrieren sich dabei meist auf die Innenpolitik. Weil die AfD zuletzt in Umfragen auf Bundesebene konstant vor den Unionsparteien lag und in den Landtagswahlen 2026 in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern sogar eine absolute Mehrheit gewinnen könnte, spitzt sich die Frage, wie mit der Rechtsaußen-Partei umzugehen ist, aktuell zu. Bundeskanzler Friedrich Merz hat seine Absage an eine Zusammenarbeit zwischen Union und AfD, ob in einer Koalitionsregierung oder durch die Tolerierung einer Minderheitsregierung, wiederholt mit den außenpolitischen Positionen der Partei begründet: der historischen Gegnerschaft zum Euro etwa oder der Russlandnähe von Teilen der AfD.

Dass der Umgang mit Rechtsaußen vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte in Berlin ein anderer ist, als in Paris, London oder Washington, liegt auf der Hand. Die Brandmauer-Debatte wird in Deutschland grundlegender geführt und mit dem Parteienverbot oder dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) haben die Verfassungsorgane Instrumente zur Verfügung, die es andernorts nicht gibt. Wer einen Blick über die deutschen Grenzen hinauswirft, erkennt jedoch schnell, dass viele Fragen, die derzeit in Deutschland gestellt werden, in vergleichbarer Dringlichkeit in fast allen wichtigen Partnerstaaten auch gestellt werden: Der Aufstieg der AfD ist mitnichten eine deutsche Eigenheit, sondern Teil eines globalen Phänomens.

Dieser Umstand ist zunächst für den Umgang mit der AfD wichtig, verändert zunehmend aber auch die Debatten in der Partei. Für das außenpolitische Selbstverständnis der Rechtsaußen ist es ein entscheidender Unterschied, gegen ein gefestigtes Establishment anzukämpfen oder – und das ist der wachsende Eindruck in der AfD – Teil eines weltweiten Trends zu sein, der spätestens mit der Wiederwahl Donald Trumps im November 2024 auch in Europa Momentum gewonnen hat. Diese Veränderung birgt Chancen, aber auch Risiken für die AfD. Besonders in der Außenpolitik setzt sie eine Professionalisierung und Aktualisierung vergangener Positionen voraus, die zwangsläufig innerparteiliche Kämpfe zur Folge haben wird.

Dabei kämpft die AfD längst nicht mehr nur in Deutschland und Europa um Anschlussfähigkeit. Aufmerksamen Beobachtern der internationalen Beziehungen wird nicht entgangen sein, dass die Infragestellung der sogenannten „liberalen, regelbasierten Ordnung“, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter US-Führung geschaffen wurde, in vollem Gange ist. Dass wir in einer Zeit großer Umbrüche leben, ist eine Floskel. Mit dem Begriff „Zeitenwende“ hat Bundeskanzler Olaf Scholz nach der russischen Invasion der Ukraine versucht, die damit einhergehenden Veränderungen zu kanalisieren und für Deutschland konstruktiv zu nutzen. Die Interpretation des Begriffs bleibt aber umstritten und die AfD erarbeitet Programme, die den Prozessen, die im Februar 2022 angestoßen wurden, an vielen Stellen konträr entgegenlaufen. Welche Version der Zeitenwende sich am Ende durchsetzt, ist völlig offen. Höchste Zeit also, sich mit der „Anti-Zeitenwende“ der AfD auseinanderzusetzen.

Dass die AfD vielfach nicht mehr gegen internationale Trends ankämpft, sich im Gegenteil oft einreiht, zeigen die folgenden außenpolitischen Positionen der AfD, die das Ergebnis dieser Studie sind:

  1. Interessen statt Werte: Deutsche Außenpolitik soll sich nicht an Werten, sondern vor allem an (nationalen) Interessen orientieren. Die AfD gleicht sich damit der Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft an.
  2. Europa, nicht „der Westen“: Die europäische Identität Deutschlands und die Mitgliedschaft in der EU werden in der AfD immer weniger infrage gestellt. Teile der Partei verneinen aber die Zugehörigkeit zu einem „kollektiven Westen“.
  3. Multipolare Weltordnung: Das Abwenden von der Idee des kollektiven Westens des 20. Jahrhunderts bereitet für die AfD den Weg in eine zukünftig multipolare Weltordnung. Die Partei sieht in dieser Veränderung Chancen – auch für Deutschland.
  4. Wider den Universalismus: Die ersten drei ­Punkte bestärken viele AfD-Vordenker und Politiker in ihrer Ablehnung universeller Ansprüche der internationalen Politik. Sie passen damit zu einer weltweit wachsenden postliberalen Strömung.
  5. Taktischer Transatlantismus: Donald Trump und das MAGA-Weltbild verschaffen der AfD aktuell unverhoffte Vorteile. Zunehmend versucht die Partei, Sympathien in Washington auch innenpolitisch zu nutzen.
  6. Russland als Partner: Teile der AfD, besonders in Ostdeutschland, positionieren sich seit Langem pro-russisch. Hier stellt sich in der Partei zunehmend die Frage, ob eigene Positionen einer zukünftigen Koalitionsfähigkeit geopfert werden sollen.

Die vollständige Studie können Sie hier bzw. im PDF oben rechts downloaden.

Bibliografische Angaben

Ross, Jacob. “Anatomie der Anti-Zeitenwende.” DGAP Analysis 4 (2025). German Council on Foreign Relations. December 2025. https://doi.org/10.60823/DGAP-25-43014-de.
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