Policy Brief

22. Okt. 2025

Grundlagen einer neuen Nuklear­strategie der NATO

Lehren aus dem Kalten Krieg
Dr. Karl-Heinz Kamp
NATO Summit Den Haag 2025
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Die Debatte über die nukleare Abschreckung der NATO konzentrierte sich bislang auf zwei Fragen. Erstens darauf, ob die nuklearen Kapazitäten der Allianz angesichts Russlands Bedrohung noch ausreichen. Zweitens, wie glaubwürdig der amerikanische Nuklearschirm nach Amtsantritt von Donald Trump geblieben ist. Bislang offen bleibt jedoch eine wesentliche dritte Frage: Welche politische und strategische Grundlage soll für den Extremfall eines Kernwaffeneinsatzes gelten und wie kann eine solche Strategie erarbeitet werden?

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Im Kalten Krieg einigte sich die NATO in einem mehrjährigen Diskussionsprozess auf eine detaillierte Nuklearstrategie, die politische Richtlinien für mögliche Kernwaffeneinsätze, Regeln für Konsultationen im Bündnis und gemeinsame Vorstellungen zur nuklearen Zielplanung beinhaltete.
Diese Grundsätze und Verfahren können heute als Grundlage für die überfällige Debatte über eine künftige Nuklearstrategie dienen, sofern sie an die aktuellen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen angepasst werden.
Neun zentrale Erkenntnisse, die sich aus der Nuklearstrategie des Kalten Krieges ableiten lassen, sollten in die künftige Strategieentwicklung einfließen. 

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Die mit Russlands Angriff auf die Ukraine aufgekommene Diskussion über die nukleare Abschreckung der NATO hat sich bislang auf zwei Fragen konzentriert: 

Die erste bezieht sich darauf, ob die Kernwaffen der Allianz noch den Anforderungen der neuen strategischen Lage entsprechen, in der ein aggressives und revanchistisches Russland sich zu einer akuten politischen und militärischen Bedrohung entwickelt hat. Sprich: Müssen die in Europa stationierten US-Atombomben durch moderne nukleare Abstandswaffen oder Marschflugkörper ersetzt werden? 

Die zweite Frage ergab sich nach der Amtsübernahme von Präsident Trump im Januar 2025 und zielte auf die künftige Verlässlichkeit amerikanischer Sicherheitsversprechen gegenüber den europäischen Bündnispartnern. Was würde geschehen, wenn Washington den Nuklearschirm über Europa schließt und die Abschreckung Europas nur noch auf den britischen und französischen Kernwaffen beruhen würde?

Weitgehend unbeachtet blieb bislang eine dritte ­Frage: die Nuklearstrategie selbst. Welche politischen und militärischen Grundsätze sollen für einen möglichen Einsatz einer Kernwaffe durch die NATO gelten? Welche Ziele kämen für den Einsatz infrage? Welche Verfahren sollen für die Billigung eines solchen Extremfalls im Bündnis gelten?

Im Kalten Krieg gab es eine solche Nuklearstrategie der NATO. Sie bezog sich zunächst auf die in Europa stationierten amerikanischen Kernwaffen sowie auf die strategischen Systeme der USA, die dem NATO-Oberbefehlshaber (Supreme Allied Commander Europe, SACEUR) assigniert, also seiner Nuklearplanung zugeordnet waren. In zweiter Linie waren es britische Kernwaffen, die ebenfalls in die Planungen des SACEUR integriert waren, die aber der letztendlichen Kontrolle Großbritanniens unterlagen. Frankreichs Atomwaffen leisteten einen eigenen Beitrag zur Abschreckung, waren aber nicht Teil der NATO-Planungen. Diese Strategie reichte von der nuklearen Zielplanung über Richtlinien für nukleare Konsultationen im Bündnis bis hin zu politischen Einsatzgrundsätzen für mögliche nukleare Erst- und Folgeeinsätze. 

Warum eine neue Nuklearstrategie?

Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem Glauben an eine dauerhafte Partnerschaft mit Russland wurden nicht nur die der NATO zugeordneten amerikanischen Kernwaffen in Europa auf ein Minimum reduziert. Auch die vorhandenen strategischen Pläne und Konzepte wurden außer Kraft gesetzt. Im Strategischen Konzept der NATO von 1999 verkündete die Allianz offiziell „[…] the termination of standing nuclear peacetime plans“. Mittlerweile sind diese mühsam erarbeiteten Konzepte weitgehend in Vergessenheit geraten. 

Heute verfügt die NATO über keine im Bündnis einvernehmlich beschlossene Nuklearstrategie, obgleich sie sich mit Russland einem Gegner gegenübersieht, der im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg mehrfach explizit den Einsatz von Kernwaffen angedroht hat. Das zuletzt öffentlich bekannt gemachte, nuklearrelevante Dokument der Allianz, der auf dem NATO-Gipfel von Chicago 2012 beschlossene „Deterrence and Defence Posture Review“ (DDPR), ist keine Nuklearstrategie, sondern vor allem eine Erklärung zur Notwendigkeit von Kernwaffen als Teil der NATO-Abschreckung. Der Review enthält keine Aussagen über den politischen oder militärischen Zweck eines Kernwaffeneinsatzes, mögliche Kriterien für einen solchen Schritt oder Regelungen für die Beratungen unter den Bündnispartnern in einer solchen Extremsituation. 

Die Entwicklung nuklearstrategischer Grundlagen ist überfällig. Denn eine glaubwürdige Abschreckung beruht nicht allein auf Waffen und Trägersystemen, sondern auch auf einer für den Gegner erkennbaren Fähigkeit und Bereitschaft, diese im Extremfall einzusetzen.

Selbst als im Herbst 2022 konkrete Anzeichen für einen möglichen Einsatz russischer Atomwaffen im Ukraine-Krieg bekannt wurden, dachte in der NATO niemand ernsthaft über eine strategische Reaktion im Extremfall nach. Die USA drohten Moskau lediglich „katastrophale Konsequenzen“ an und ließen durchblicken, dass man mit konventioneller Vergeltung reagieren würde. Auch der Beschluss auf dem NATO-Gipfel von Vilnius 2023 „[…] to modernise NATO’s nuclear capability and updating planning […]” bezog sich vor allem auf die militärischen Planungen und nicht auf die Erarbeitung einer politisch-militärischen Strategie. 

Die Entwicklung nuklearstrategischer Grundlagen ist überfällig. Denn eine glaubwürdige Abschreckung beruht nicht allein auf Waffen und Trägersystemen, sondern auch auf einer für den Gegner erkennbaren Fähigkeit und Bereitschaft, diese im Extremfall einzusetzen. Für die künftig erforderliche Strategiedebatte in der Allianz stellen sich damit drei zentrale Fragen: 

  • Welche nuklearstrategischen Konzepte und Doktrinen gab es zur Zeit des Kalten Krieges?
  • Wie unterscheidet sich die heutige nukleare Bedrohungslage von der Situation des Ost-West-Konfliktes?
  • Welche dieser einstigen Regeln und Verfahren können in eine künftig zu entwickelnde NATO-Nuklearstrategie einfließen?

Die NATO-Nuklearstrategie im Kalten Krieg

Seit Anbeginn des Nuklearzeitalters und der Ausrüstung der NATO mit zunächst amerikanischen und später britischen Kernwaffen stand die Frage im Raum, wie diese im Ernstfall eingesetzt werden sollten. Während die alleinige Entscheidungsautorität des amerikanischen Präsidenten und später des britischen Premierministers über einen Einsatz nie ernsthaft infrage gestellt wurde, drängten die nicht-nuklearen Mitgliedstaaten zunehmend darauf, dass ihre Sicherheitsinteressen im Falle einer nuklearen Eskalation gehört und berücksichtigt würden. Dies bezog sich im Wesentlichen auf drei Bereiche: 

  • den politischen Zweck eines Kernwaffeneinsatzes,
  • die Auswahl der möglichen Ziele
  • die Konsultationen im Bündnis, also auf ein Verfahren, um möglichst viele Mitgliedstaaten zu Rate zu ziehen, ohne den Entscheidungsprozess unnötig zu verzögern. 

Eine Diskussion über den politischen Zweck von Kernwaffeneinsätzen war unabdinglich, da es zwar strikte militärische Regeln für die Anforderungen und Freigabe von Nuklearwaffen gab, ein politischer Überbau aber weitgehend fehlte. Somit ergaben sich verschiedene Fragen:

Soll ein Kernwaffeneinsatz die militärische Situation auf dem Gefechtsfeld verändern, wie es das amerikanische Militär mehrheitlich vorsah, oder soll er vor allem das Risikokalkül des Angreifers beeinflussen, was der Meinung der meisten Europäer entsprach? 

Sollen Kernwaffen eher symbolisch und ohne ­große Schadenswirkung als Signal der Entschlossenheit eingesetzt werden oder soll ein nuklearer Ersteinsatz ­direkt auf das Territorium der Sowjetunion zielen, mit der Gefahr einer direkten nuklearen Vergeltung gegen NATO-Gebiet? 

Sollen Kernwaffen eher früh, also unmittelbar nach dem gegnerischen Angriff eingesetzt werden, um den Aggressor zur Umkehr zu bewegen, oder erst später im Verlauf des Konflikts? 

Da diese Fragen die Sicherheit und letztlich das Überlebensinteresse der NATO-Mitglieder unterschiedlich beeinflussten, dauerte es entsprechend lang, bis man sich auf einen politischen Rahmen für Kernwaffeneinsätze geeinigt hatte. Im November 1969 wurden zunächst die „Provisional Political Guidelines“ verabschiedet, die sich auf die politischen Grundsätze eines nuklearen Ersteinsatzes bezogen. Damit war das Strategieproblem aber noch nicht gelöst, denn es blieb die Frage, was geschieht, wenn der Gegner vom nuklearen Ersteinsatz unbeeindruckt seinen Angriff fortsetzt, anstatt die Kampfhandlungen einzustellen? 

War es schon schwierig genug, einen politischen Konsens über einen erstmaligen Kernwaffeneinsatz herzustellen, wurden die Probleme noch größer, wenn es um einen möglichen Folgeeinsatz ging. Was wäre, wenn der Ersteinsatz nicht zum gewünschten Ziel eines Endes der Kampfhandlungen führte? Soll es einen weiteren Kernwaffeneinsatz geben? Und wie verhindert man, dass sich dieser Prozess zu einem umfassenden Nuklearkrieg aufschaukelt? Angesichts der Brisanz dieser Frage und der Vielzahl damit verbundener Einzelprobleme dauerte es bis zur Mitte der 1980er Jahre, um zu den sogenannten „General Political Guidelines“  zu gelangen. Diese Richtlinien spiegelten vor allem die Europäische Präferenz wider, Kernwaffen als politisches Signal einzusetzen, nicht, wie vom amerikanischen Militär bevorzugt, in großer Anzahl als Mittel der Kriegführung. 

Eng mit der Frage des strategischen Zwecks von Kernwaffen hing der zweite Aspekt der Nuklearstrategie zusammen, nämlich die Frage der nuklearen Zielplanung. Auch hier zeigte sich wieder der Gegensatz zwischen dem Konzept der nuklearen Kriegführung mit großen Kernwaffenzahlen einerseits und einer eher politischen Nuklearstrategie andererseits, die mit eher symbolischen Einsätzen darauf setzte, den Angreifer zur Umkehr zu bewegen.

Während bis Mitte der 1960er Jahre die Zielplanung ausschließlich von den USA beziehungsweise Großbritannien erarbeitet wurde, konnten mit der Gründung der Nuklearen Planungsgruppe (Nuclear Planning Group – NPG) 1967 die nicht-nuklearen NATO-Staaten eigene Vorstellungen und Bedenken einbringen. Auch hier zeigten sich wieder unterschiedliche Interessen: die USA bevorzugten Ziele in Europa – im Warschauer Pakt aber auch in NATO-Ländern – und versuchten, sowjetisches Territorium so lange wie möglich auszusparen, um einer direkten Vergeltung gegen die Vereinigten Staaten zu entgehen. Die Europäer hingegen plädierten für Einsätze gegen die Sowjetunion selbst, um zu verhindern, dass die beiden Supermächte ihren Konflikt allein auf europäischen Boden austragen würden und selbst weitgehend unbeschädigt davonkämen. In den Folgejahren gingen die USA schrittweise auf die europäischen Bedenken ein und verfügten, dass mögliche nukleare Ziele regelmäßig in der sogenannten „Nuclear Targeting Coordination Conference“ mit allen NATO-Partnern (außer Frankreich, das nicht der NPG angehörte) diskutiert wurden. 

Damit verbunden ist das dritte Element einer Nuklearstrategie, die Frage der Konsultationen zwischen den Kernwaffenstaaten und ihren nicht-nuklearen Verbündeten im Falle eines Waffeneinsatzes. Das Dilemma der NATO lag darin, dass die Entscheidung über den Einsatz von Kernwaffen ausschließlich beim amerikanischen Präsidenten beziehungsweise beim britischen Premierminister lag und keiner der beiden dies mit anderen NATO-Verbündeten teilen wollte. Die von manchen Europäern geäußerten Ideen eines Mehrheitsbeschlusses oder eines Vetos waren deshalb von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Gleichzeitig hätten die Europäer – allen voran die Bundesrepublik – unter den katastrophalen Folgen von nuklearen Explosionen am meisten zu leiden gehabt und hatten deshalb ein starkes Interesse, einen Einfluss auf die Art, die Größe und Zeitpunkt von Kernwaffeneinsätzen zu bekommen. Auch wollten sie vor einem möglichen Nukleareinsatz zu Rate gezogen werden oder, wie es der kanadische Außenminister Lester Pearson schon 1954 in einer Rede formulierte: „No annihilation without consultation“.

Zu solchen Konsultationen fanden sich die USA grundsätzlich bereit, befürchteten aber, dass sie die Entscheidung zum Kernwaffeneinsatz zwar nicht verhindern, aber doch verzögern könnten. Angesichts der damaligen Bedrohungsszenarien von rasch auf NATO-Territorium vorstoßenden Verbänden des Warschauer Paktes, waren solche Bedenken durchaus gerechtfertigt. Auf dem NATO-Ministertreffen 1962 in Athen gestanden die USA dann zu, den NATO-Rat vor einem Kernwaffeneinsatz zu konsultieren „[…] if time permitted“ – also, wenn die Zeit und die Umstände einen solchen Prozess erlauben würden. Wie solche Konsultationen genau aussehen sollten, blieb allerdings offen. 

Angesichts solcher eher vager Aussagen überrascht es nicht, dass die nicht-nuklearen NATO-Mitglieder auch weiterhin auf eine Berücksichtigung ihrer Interessen drängten – entweder in bilateralen Abkommen mit den USA oder im Rahmen der NATO insgesamt. Zunehmend schälte sich ein Konsens heraus, dass die Ansichten der Staaten, die von Kernwaffeneinsätzen am ehesten betroffen wären, besondere Berücksichtigung finden sollten. Das betraf vor allem die Länder, die amerikanische Kernwaffen auf ihrem Boden lagerten, die eigenes Personal oder Trägersysteme bereitstellen würden oder die, wie die Bundesrepublik, aufgrund ihrer geografischen Lage erstes Schlachtfeld einer militärischen Auseinandersetzung wären. Zum Abschluss der „General Political Guidelines“ 1986 gab es festgeschriebene Verfahren, nach denen die Konsultationen über mögliche Kernwaffeneinsätze geführt würden. 

Auch wenn diese Strategie unter den besonderen Bedingungen des Ost-West-Konflikts erarbeitet wurde, betrifft sie doch viele Kernfragen, die sich auch für die heutige nukleare Abschreckung der NATO stellen.

Nach zwei Jahrzehnten intensiver Debatten verfügte die NATO also zur Mitte der 1980er Jahre über eine weitgehend ausgearbeitete Nuklearstrategie mit allseits akzeptierten politischen Richtlinien, mit einem Austausch über die nukleare Zielplanung sowie Regeln und Verfahren zu Konsultationen zwischen Nuklear- und Nicht-Nuklearstaaten. Wenige Jahre später verlor dieser mühsam erarbeitete Konsens mit dem Fall der Berliner Mauer weitgehend seine Bedeutung. 

Auch wenn diese Strategie unter den besonderen Bedingungen des Ost-West-Konflikts erarbeitet wurde, betrifft sie doch viele Kernfragen, die sich auch für die heutige nukleare Abschreckung der NATO stellen: Wie sollte die NATO reagieren, wenn Russland Kernwaffen entweder gegen die Ukraine oder gar gegen ein NATO-Mitglied einsetzt? Wann sollte die NATO nuklear eskalieren und gegen welche Ziele sollte sich eine solche Eskalation richten? Wie könnte ein möglichst breiter Konsens über einen NATO-Kernwaffeneinsatz erreicht werden und wie müsste der Informationsaustausch zwischen den nuklearen und nicht-nuklearen Mitgliedern aussehen? Damit können Teile der Strategie als Richtschnur für künftige Strategiedebatten dienen, wenn man sie in den Kontext der aktuellen und künftigen sicherheitspolitischen Gefährdungen stellt. 

Die neuen strategischen Rahmenbedingungen

Obgleich sich Russland wieder zu einer militärischen und politischen Gefahr für die NATO entwickelt hat, unterscheidet sich die heutige Bedrohungslage von der des Kalten Krieges grundlegend. Russland ist nicht mehr – wie einst die Sowjetunion – der NATO militärisch deutlich überlegen und hat auch sein ehemaliges Bündnissystem, den Warschauer Pakt, verloren. Damit ist nicht mehr mit raschen, raumgreifenden militärischen Vorstößen Russlands von Ost nach West zu rechnen, mit denen die Sowjetunion einst in wenigen Wochen den Atlantik erreichen wollte. Mit solchen Vorstößen wollte Moskau einen militärischen „Fait Accompli“ schaffen, bevor die umfassende amerikanische Verstärkung in Europa eingetroffen wäre. 

Heute sind eher begrenzte militärische Vorstöße etwa im Baltikum denkbar, in denen Russland unter dem Vorwand, die russisch-stämmige Bevölkerung in der Region schützen zu wollen, Teile Estlands oder Lettlands besetzt. Das Ziel solcher Maßnahmen könnte es sein, den Zusammenhalt der NATO auf die Probe zu stellen. 

Darüber hinaus wären russische Luftoperationen oder massive Drohnenangriffe gegen NATO-Mitglieder vorstellbar. Erfolgten sie isoliert und nicht im Rahmen eines größeren Angriffs, würde sich die Frage nach dem politischen Rational stellen, da mit Luftangriffen oder Drohnenschwärmen zwar Ziele zerstört, Regionen aber nicht besetzt oder dauerhaft gehalten werden können.

Hinsichtlich der nuklearen Abschreckung der NATO bedeutet dies, dass amerikanische oder britische Kernwaffeneinsätze auf NATO-Territorium, wie einst gegen schnell vorrückende sowjetische Verbände, heute kaum mehr realistisch sind. Auch muss nicht mehr rasch über eine nukleare Eskalation entschieden werden, bevor der Angreifer vollendete Tatsachen schaffen kann. Das erwähnte „Baltikum-Szenario“ würde ebenso wenig mit einem Nukleareinsatz der NATO beantwortet werden müssen. Stattdessen könnte die militärisch überlegene NATO das von Russland besetzte Gebiet freikämpfen, den Nachschub durch die konventionelle Zerstörung von Stützpunkten und Flughäfen im russischen Hinterland unterbinden oder im Gegenzug russisches Territorium besetzen. 

Die Bündnissolidarität der Vereinigten Staaten im Rahmen der NATO ist zumindest ambivalenter geworden.

Dennoch können russische Kernwaffeneinsätze auf NATO-Gebiet nicht ausgeschlossen werden. In einem größeren militärischen Konflikt an den Ostgrenzen der NATO würde Russland versuchen, sowohl die Truppenbewegungen der NATO von Westen nach Osten, als auch die Anlandung amerikanischer Verstärkung in Europa durch Angriffe auf Häfen oder Verkehrsknotenpunkte zu verhindern. Solche Angriffe könnten auch mit Kernwaffen erfolgen.

Gleichzeitig ist die Bündnissolidarität der Vereinigten Staaten im Rahmen der NATO zumindest ambivalenter geworden. Einerseits haben die USA mit der Verlegung von B61-12 Atombomben auf den britischen Luftwaffenstützpunkt Lakenheath ihr Nukleararsenal in Europa verstärkt. Dadurch ist Großbritannien erneut zu einem nuklearen Stationierungsland geworden (neben Belgien, Deutschland, Italien, Niederlande, Türkei), nachdem die USA 2008 alle ihre Kernwaffen von dort abgezogen hatten. Andererseits hat Präsident Trump immer wieder Zweifel an seinem Festhalten am amerikanischen Nuklearschirm über Europa geäußert und die europäischen Verbündeten entsprechend verunsichert. 

Betrachtet man die Erfahrungen aus den nuklearen Debatten des Kalten Krieges hinsichtlich der künftigen Anforderungen an eine glaubwürdige Abschreckung, so lassen sich mindestens neun Erkenntnisse für die anstehende Erarbeitung einer NATO-­Nuklearstrategie gewinnen. 

Neun Lehren für eine künftige Nuklearstrategie

Betrachtet man die Erfahrungen aus den nuklearen Debatten des Kalten Krieges hinsichtlich der künftigen Anforderungen an eine glaubwürdige Abschreckung, so lassen sich mindestens neun Erkenntnisse für die anstehende Erarbeitung einer NATO- Nuklearstrategie gewinnen. 
 

  • Erstens muss sich diese Strategie vor allem gegen Russland richten. Ungeachtet des machtpolitischen Aufstiegs Chinas auf der Weltbühne ist kaum mit einem direkten Angriff Chinas auf die NATO zu rechnen. China spielt bestenfalls mittelbar eine Rolle, da die USA als Globalmacht sowohl Russland als auch China abschrecken müssen und im Falle einer militärischen Krise im Indo-Pazifik Kernwaffen aus Europa in diese Region verlagern könnten. Das würde wiederum die Nuklearplanungen des SACEUR für Europa beeinflussen.  
  • Zweitens besteht für die NATO keine Notwendigkeit zu einer möglichst frühzeitigen nuklearen Eskalation. Dies lässt sich auch mit Blick auf die bestehenden militärischen Kräfteverhältnisse begründendie sich durch den Krieg gegen die Ukraine weiter zum Nachteil Russlands entwickeln dürften. Wie aus der Reaktion der USA auf einen potenziellen russischen Kernwaffeneinsatz gegen die Ukraine im Herbst 2022 zu erkennen war, würde die NATO eine militärische Aggression Russlands vermutlich möglichst lange konventionell mit der Zerstörung russischer militärischer Fähigkeiten beantworten. Wahrscheinlich würde eine nukleare Eskalation erst dann erwogen werden, wenn ein russischer Kernwaffeneinsatz gegen die NATO erfolgt ist oder unmittelbar bevorsteht.
  • Drittens ist der langjährige Streit um die Frage, ob Kernwaffeneinsätze im Sinne der nuklearen Kriegsführung vor allem militärischen Erfordernissen dienen sollten, oder ob ihr Zweck in erster Linie politisch sei, weitgehend beendet. Eine nukleare Eskalation der NATO würde zuerst dem politischen Ziel dienen, Verteidigungswillen gegenüber dem Angreifer zu demonstrieren und ihn zum Abbruch der Kampfhandlungen zu bewegen. Das bedeutet allerdings nicht, dass Kernwaffeneinsätze rein symbolisch, etwa über unbewohntem Gebiet erfolgen sollen, da dies als mangelnde Entschlossenheit missverstanden werden könnte. Wie schon in den Diskussionen um die General Political Guidelines festgehalten, muss ein Kernwaffeneinsatz auch einen Schaden für den Angreifer verursachen, um als Warnung ernst genommen zu werden.
  • Viertens heißt dies, dass eine künftige nukleare Zielplanung vor allem gegen russisches Territorium gerichtet sein muss. In begrenztem Maß kämen auch Ziele in Belarus in Betracht, das sein Territorium für russische Kernwaffen und Trägersysteme zur Verfügung stellt. Auch müsste eine solche Zielplanung wieder im Kreis der NATO-Staaten diskutiert und mit den Planungen Großbritanniens – und möglicherweise auch mit Frankreich, sofern sich Paris weiter in diese Richtung bewegt – koordiniert werden.
  • Fünftens könnten die in der Vergangenheit entwickelten nuklearen Konsultationsmechanismen der NATO im Wesentlichen beibehalten werden. Konsultiert würden demzufolge vor allem die besonders betroffenen Staaten, also jene, die amerikanische Kernwaffen auf ihrem Boden stationieren, die Trägersysteme bereitstellen oder sonstige Unterstützung leisten. Da nicht mehr rasche raumgreifende Operationen Russlands von Ost nach West zu befürchten sind, dürfte genügend Zeit für solche Konsultationen bestehen. Frankreich sollte, obwohl es nicht in der NPG vertreten ist, in solche Konsultationen einbezogen werden. Allerdings liegt die letztendliche Entscheidungsautorität immer noch allein bei den Nuklearmächten der NATO. Mehrheitsentscheidungen oder ein Veto einzelner Mitgliedstaaten sind nach wie vor nicht vorstellbar.
  • Sechstens sollte die Allianz, auch wenn ein früher Kernwaffeneinsatz der NATO sehr unwahrscheinlich ist, nicht von ihrem nach wie vor gültigen Konzept des „First Use“ abweichen. Das heißt davon, eine nukleare Eskalation auch dann zu erwägen, wenn der Gegner noch keine eigenen Kernwaffen eingesetzt hat. Sogenannte „No First Use“ Erklärungen, wie sie Indien und China abgegeben haben, sind politisch motivierte Absichtsbekundungen, die im Ernstfall keinerlei Bindewirkung haben. Indem die NATO einen nuklearen Ersteinsatz nicht grundsätzlich ausschließt, belegt sie jede militärische Aggression mit der Gefahr der nuklearen Vergeltung und erhöht damit das Risiko für den Angreifer. Damit kann mit einer glaubhaften nuklearen Abschreckung nicht nur der Nuklearkrieg, sondern auch ein konventioneller Angriff verhindert werden.
  • Siebtens müssen die in einer künftigen Nuklearstrategie festgelegten Verfahren regelmäßig in entsprechenden Übungen praktiziert werden. In der Vergangenheit gab es die alle zwei Jahre stattfindenden WINTEX-Übungen (Winter Exercise), in denen die zivil-militärische Koordination im Krisenfall und die politischen Verfahren im Zusammenhang mit Kernwaffeneinsätzen geprobt wurden. Sie wurden Ende der 1980er Jahre eingestellt. Die heutigen „Steadfast Noon“-Nuklearmanöver der NATO beziehen sich nur auf die militärisch-technischen Aspekte von Kernwaffeneinsätzen, wie etwa das Handling der Bomben oder das Beladen der Flugzeuge. Der politisch-strategische Aspekt fehlt völlig und müsste in künftigen Übungen analog zu WINTEX wieder eingeführt werden.
  • Achtens muss die Nuklearplanung wieder einen höheren Stellenwert innerhalb der NATO-Kommandostruktur bekommen. Während des Ost-West-Konflikts war der Chief Nuclear Planning im militärischen Hauptquartier der NATO (SHAPE – Supreme Headquarters Allied Powers Europe) stets ein General und wurde erst in den 1990er Jahren auf den Rang eines Oberst abgestuft. Die Wiederherstellung des Generalsrangs würde nicht nur die Bedeutung der nuklearen Abschreckung innerhalb der NATO aufwerten, sondern auch im Rahmen des sogenannten „Nuclear Signalling“ eine Botschaft der Entschlossenheit an Russland senden.
  • Neuntens muss die Notwendigkeit nuklearer Abschreckung und damit verbundener Strategien und Konzepte offen kommuniziert werden. Nur durch eine transparente und nachvollziehbare Darstellung verteidigungspolitischer Notwendigkeiten kann die öffentliche Zustimmung zu dem politisch nicht leicht zu vermittelnden Konzept der Abschreckung erhalten werden.   

Fazit

Mit Russlands Krieg in der Ukraine, Moskaus aggressiven Aktionen gegen einzelne NATO-Mitglieder und wachsenden Spannungen an der NATO-Ostflanke ist die allgemeine Einsicht in die Notwendigkeit einer glaubwürdigen Verteidigung deutlich gestiegen. Die erhebliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben in den meisten NATO-Staaten trifft meist auf ebenso breite öffentliche Zustimmung, wie die weitere Unterstützung der Ukraine oder die Verschärfung der Sanktionen gegen Moskau. Die NATO sollte diese allgemeine sicherheitspolitische Sensibilität nutzen, um auch im Bereich der nuklearen Abschreckung zu einer überzeugenden Strategie zu gelangen. Wichtige Erkenntnisse aus vergangenen Strategiedebatten können die Basis für einen künftigen nuklearstrategischen Konsens bilden – nicht als Rückgriff auf alte Rezepte, sondern als Grundlage für eine neue, realistische Nuklearstrategie. Deutschland, das die nuklearstrategischen Debatten des Kalten Krieges entscheidend mitgeprägt hat, kommt angesichts seines politischen Gewichts und seiner geostrategischen Lage auch heute eine besondere Verantwortung zu. 

Bibliografische Angaben

Kamp, Karl-Heinz. “Grundlagen einer neuen Nuklear­strategie der NATO.” German Council on Foreign Relations. October 2025. https://doi.org/10.60823/DGAP-25-42814-de.

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