Dieser Text erschien zuerst am 17. April 2025 in der ‚By Invitation‘-Kolumne des Economist.
Dass der Chef des deutschen Heeres den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci (1891–1937) zitiert, kommt nicht alle Tage vor: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.“ So General Alfons Mais in einer Rede anlässlich der Aufstellung einer neuen Heeresdivision in Berlin. Zeit der Monster: Jetzt heißt es wachsam sein, sich vorbereiten, kriegstüchtig werden.
Vom Scheitelpunkt scheinbar grenzenloser Globalisierung schwingt das Pendel mit enormer Kraft in Richtung Protektionismus, von einer immer gründlicher regelbasierten Weltordnung hin zu einem primitiven Einflusssphären-Imperialismus, von woker Identitätspolitik hin zum individuellen „Survival of the Fittest“. Der Siegeszug von Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft nach dem Ende des Kalten Krieges 1990 scheint Geschichte. Die Welt wird wieder kälter, härter. Der Westen zerfällt. Krieg droht.
Dieser Epochenbruch, diese tektonischen Erschütterungen und Verschiebungen üben gewaltigen Druck auf Deutschland und Europa aus. Die alte Welt muss endlich weltmachtfähig werden. Eine wirklich selbstbewusste Außen- und Sicherheitspolitik ist das Gebot der Stunde. Dabei kann Berlin nicht länger bescheidene „Führung aus der Mitte“ propagieren wie zu Zeiten von CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel oder erfolglose Appeasement-Politik als „Besonnenheit“ ausgeben wie SPD-Kanzler Olaf Scholz.
Deutschland ist zu groß, um sich hinter Dänemark zu verstecken. Es ist das größte und wirtschaftlich bei weitem stärkste Land Europas, die zweitreichste NATO-Nation und gegenwärtig trotz aller Probleme die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt.
Berlin ist potenter, als es sich selbst fühlt. 51 Prozent der Amerikaner und 58 Prozent der Chinesen halten Deutschland für eine „Großmacht“, so das Ergebnis einer Umfrage der Münchner Sicherheitskonferenz – doch nur 22 Prozent der Deutschen stimmen dem zu. Wir wollten doch nach 1945 allenfalls eine wirtschaftliche Macht sein, später noch lieber eine moralische! Aber politisch und militärisch: „Nie wieder!“ Den Luxus dieses machtpolitischen Eskapismus können sich Deutschland und Europa jetzt nicht mehr leisten.
Stattdessen muss die kaputtgesparte Bundeswehr schnell zur stärksten konventionellen Armee des Kontinents werden. Dafür ist mit den jüngsten Bundestagsbeschlüssen zur Aufhebung der Schuldenbremse für die Verteidigung die notwendige Grundlage gelegt. Berlins neuer kategorischer Imperativ folgt der alten deutschen Panzertaktik: nicht kleckern, sondern klotzen! Am Geld dürfte es nicht mehr scheitern. Deutschland kann massiv aufrüsten. Der voraussichtlich nächste Kanzler Friedrich Merz von der konservativen CDU zitiert den ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi aus der Zeit der Weltfinanzkrise und verspricht Rüstungsausgaben in unbegrenzter Höhe: „Whatever it takes.“ Wenn nun auch noch eine sinnvolle Form der Wehrpflicht wiederkommt, sollte die Truppe rasch von 180.000 in Richtung 250.000 aktive Soldaten aufwachsen, dazu 200.000 Reservisten, rechnen Streitkräfteplaner vor. Das klingt viel, ist aber selbstverständlich möglich. In der Zeit des Kalten Krieges vor 1990 lag die Soll-Stärke der westdeutschen Streitkräfte bei 495.000 aktiven Soldaten; mobilgemacht wären es mit Reservisten im Ernstfall insgesamt 1,3 Millionen gewesen – voll ausgerüstet.
Höherer Wehretat, größere Bundeswehr und Wehrpflicht sind in Deutschland durchaus populär. Auch die Soldaten selbst genießen schon lange hohe Wertschätzung, ganz vorn im Ranking der Berufe – gleich hinter dem Spitzenreiter Polizei. Nur die Regierungskoalitionen von Angela Merkel und Olaf Scholz taten sich allzu oft schwer mit der erneuten Wehrhaftmachung des Landes. Immer schien alles andere wichtiger zu sein als die äußere Sicherheit.
Es muss eine europäische Koalition der wirklich Verteidigungswilligen zusammenkommen
Nun aber geht es um die existenzielle Selbstbehauptung Europas zwischen den geopolitischen Rivalen der Epochenbruch-Zeit: auf der einen Seite Putins Russland, das im vierten Jahr seinen Eroberungskrieg gegen die Ukraine führt, den „kollektiven Westen“ zum Feind erklärt hat und diesen bereits hybrid bekämpft; auf der anderen Seite Trumps Amerika, das sich demonstrativ von den NATO-Demokratien abwendet; und fern im Osten Xis imperiales China, das vor der Küste Taiwans ein Militärmanöver nach dem anderen abhält.
Eigentlich liegt es im objektiven nationalen Sicherheitsinteresse der USA, an beiden Gegenküsten – der atlantischen und der pazifischen – Verbündete zu haben. Und eigentlich ist Amerika nur dann eine „exceptionelle“ Atomsupermacht, wenn es seinen nuklearen Hauptantagonisten Russland davon abschrecken kann, unter dem Schirm russischer Atomdrohungen Nachbarstaaten einzuschüchtern und zu überfallen. Aber momentan zählen die eigenen amerikanischen Fundamentalinteressen in Washington offenbar wenig. Zudem kommt „Vertrauen“ als politische Kategorie in der aktuellen US-Außenpolitik nicht mehr vor. Es scheint, als sei der Wilde Westen zurück. Vielleicht muss die NATO, wer weiß, bald ohne glaubwürdige US-Beistandsgarantie auskommen.
In dieser Situation maximaler Verunsicherung sollte in Europa eine Koalition der Willigen neue militärische und politische Stärke organisieren. Eine quasi-natürliche Führungsrolle kommt hier den beiden europäischen Atommächten Frankreich und Großbritannien zu – sowie aufgrund seiner Größe, Wirtschaftskraft und geografischen Lage: Deutschland. Auch Polen könnte zum Führungskern dieser Koalition gehören. Nicht alle aktuellen EU- und NATO-Mitgliedsstaaten müssen dabei sein, aber etwa Großbritannien, Norwegen und auch Kanada wären selbstverständlich hochwillkommen. Es wäre wie mit dem Grenzkontrollregime im Schengenraum, an dem zum Beispiel zusätzlich die Nicht-EU-Mitglieder Schweiz und Island teilnehmen, oder wie mit dem gemeinsamen Währungsraum der Eurozone, dem 20 EU-Staaten angehören, nicht aber etwa Schweden, Dänemark, Polen oder Tschechien. Die Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt bekommt keine Weisungen aus Brüssel.
So müsste auch eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft eingerichtet sein. Ihr künftiges militärisches Hauptquartier (etwa in Straßburg) wäre ausschließlich von den tatsächlich zur Selbstbehauptung Entschlossenen personell zu besetzen und zu kontrollieren. Kreml-freundliche Länder wie Ungarn oder die Slowakei, oder Neutrale wie Österreich und Irland, würden gegenwärtig wohl nicht dazugehören – auch die Türkei eher nicht. Also: eine europäische Koalition der wirklich Verteidigungswilligen! Diese Euro-NATO-Gruppe, die nicht identisch mit der EU wäre, würde vermutlich 500 Millionen Menschen, 1,5 Millionen Soldaten und ein Bruttoinlandsprodukt von 20 Billionen Euro repräsentieren. Die Europäische Union könnte mit ihren Instrumenten – einschließlich etwa verbilligter Rüstungskredite oder finanzieller Kooperationsanreize – helfen, aber nicht führen.
Auf die Rückversicherung einer eigenen Verteidigungsgemeinschaft ohne die USA hinzuarbeiten, bedeutet nicht, dass man die transatlantische Allianz aufgeben will. Alle Verträge und Pläne bleiben in Kraft – es sei denn, die USA selbst kündigen, und Trumps Amerika steigt wirklich und unwiderruflich aus. Dann stünde der diverse Rest des Westens ohne seinen historischen Hegemon da. Und genau dann müsste ein Plan B unverzüglich zur Hand sein – einschließlich einer Atomabschreckungsoption durch Großbritannien, Frankreich und die nukleare Teilhabe anderer. Deutschland kann hier allenfalls mitfinanzieren, stationieren und Trägersysteme zur Verfügung stellen (wie heute schon). Eine eigene Atombewaffnung schließt der Zwei-plus-Vier-Vertrag, der die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte, kategorisch aus.
Auf diese völlig neue Lage – auf die Möglichkeit eines Verteidigungsbündnisses ohne die USA – müssen sich Europa und Kanada einstellen. Sie müssen es nicht nur „andenken“, sie müssen es durchplanen – sowohl was die Führungsstrukturen als auch was die militärische Substanz angeht. Und zwar sofort, ohne weiteren Zeitverzug. Die europäische Rüstungsindustrie sollte bereit sein, gegebenenfalls US-Ausfälle so rasch wie möglich zu kompensieren – quantitativ und qualitativ.
Die Parteien der kommenden Berliner Koalitionsregierung, CDU/CSU und SPD, hatten schon die kritischen Technologiefelder im Entwurf ihres Bündnisvertrags konkret benannt: Drohnen, Satelliten, künstliche Intelligenz, elektronischer Kampf, Cyber, Software Defined Defense, Cloud-Anwendungen und Hyperschall-Systeme.
Was häufig vergessen wird: Europa hat eine der leistungsfähigsten Rüstungsindustrien weltweit. Die jährlichen Exportstatistiken belegen dies. Allerdings darf es jetzt nicht nur darum gehen, mehr große Plattformen – also mehr Flugzeuge, Panzer und Schiffe – zu produzieren, sondern Europa muss eine technologiegetriebene Verteidigungsstrategie verfolgen. Kampfkraft wird heute und in Zukunft ganz wesentlich durch Geschwindigkeit, Präzision und Automatisierung definiert. Vernetzte Sensorik und digitale Integration auf dem Gefechtsfeld – verstärkt und beschleunigt durch KI – sind die wesentlichen Treiber. Der Ukraine-Krieg zeigt, dass Hightech und Masse zusammengebracht werden müssen. Unbemannte Systeme, Aufklärungs- und Angriffsdrohnen spielen eine zentrale Rolle für defensive und offensive Aufgaben. In Verbindung mit künstlicher Intelligenz wird ihre Bedeutung künftig weiter wachsen. Sie bringen kostengünstig Masse auf das Gefechtsfeld und verstärken so das knappe Personal der Streitkräfte – manche sprechen von einem „Drohnenwall“ gegen hochgerüstete Angreifer. Das alles ist keine Science-Fiction, wie der tägliche Kampf der Ukraine zeigt. Die Beschaffungsprozesse haben sich dort längst dem Tempo der rasanten Technologieentwicklung angepasst. Das muss auch bei uns möglich sein – wir haben es selbst in der Hand.
Aber auch wenn der Worst Case nicht eintritt und unsere Partnerschaft mit den USA die Zeit der Monster überlebt, braucht Europa – neben den unbezweifelbaren Vorteilen und Synergien freundschaftlicher US-Kooperation – künftig in jedem Fall so viel technologische Souveränität und strategische Autonomie wie möglich. Nicht nur gegenüber China wird die Devise lauten: De-risking!
Gelingt dies, sollten wir bald den politischen Modus des Reaktionismus – des bloßen Reagierens auf jede Veränderung und Gefahr – verlassen und endlich wieder die Initiative gewinnen. Vielleicht bringt Europa der Welt die Fusionsenergie (Merz’ Koalition hat es sich ausdrücklich vorgenommen), den Quantencomputer und eine Demokratie, die vorbildlich funktioniert. Bevor es zu spät ist. Zwei Jahre nach Gramscis Tod begann der Zweite Weltkrieg.
Dr. Thomas Enders ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er war bis 2019 CEO von Airbus.
Dr. Hans-Peter Bartels ist Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GSP). Er war bis 2020 Abgeordneter, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages.