Memo

13. Aug. 2025

Frankreichs aktualisierte Sicherheitsstrategie und ihre Bedeutung für Deutschland

Jacob Ross
Dr. Emil Archambault
Nicolas Téterchen
Dr. Patrick Keller
July 14, 2025, Paris,July 14, 2025, Paris, France: Emmanuel Macron and General Thierry Bukhard
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Im Juli hat Frankreichs Regierung ihre aktualisierte Nationale Sicherheitsstrategie (Revue nationale stratégique) veröffentlicht. Das Papier ersetzt die bisherige Fassung, die als Reaktion auf die russische Vollinvasion der Ukraine aktualisiert worden war. Die überarbeitete Version, die mit Blick auf die Politik von Trump 2.0 entstanden ist, trägt der Annahme Rechnung, dass militärische Gewalt absehbar weltweit verstärkt als Instrument zur Interessenwahrung eingesetzt wird. Der Zeithorizont der Strategie bleibt das Jahr 2030.

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Neuerungen unter Finanzierungsvorbehalt

Anlässlich des Nationalfeiertags am 14. Juli hat Frankreich seine angepasste Nationale Sicherheitsstrategie vorgestellt: die „Revue nationale stratégique“ (RNS). Diese löst die Fassung von 2022 ab, die infolge der russischen Aggression gegen die Ukraine veröffentlicht worden war. Viele Prioritäten der RNS, etwa die „moralische Wiederbewaffnung“ (réarmement moral), erinnern an deutsche Diskussionen um die „Kriegstüchtigkeit“ und einen Mentalitätswechsel in der deutschen Gesellschaft. Sie zielen aber umfassender auf ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein für die Bedrohungslage. Der für Jugendliche bereits verpflichtende „Tag der Verteidigung und Staatsbürgerschaft“ (Journée défense et citoyenneté) und weitere Möglichkeiten, sich in den Streitkräften und für die nationale Sicherheit zu engagieren, sollen ausgebaut werden. Die aktualisierte RNS schließt damit an den universellen Nationaldienst (Service national universel, SNU) an, der 2017 von Emmanuel Macron vorgeschlagen und über Jahre vorangetrieben, 2024 aber vor allem wegen fehlender Finanzierung aufgegeben wurde.

Unterfüttert werden Prioritäten der RNS von der mehrjährigen verteidigungspolitischen Finanzplanung (loi de programmation militaire, LPM). Die Aktualisierung der RNS macht auch die erneute Anpassung des Verteidigungshaushalts erforderlich. In einer Rede an die Streitkräfte am 13. Juli kündigte Macron eine entsprechende Überarbeitung der LPM für den Herbst an. Das Verteidigungsbudget soll nun statt bis 2030 schon bis 2027 auf 64 Milliarden Euro erhöht werden und damit auf ca. 2,5 Prozent des BIP (ca. 10 Milliarden Euro für militärische Pensionen). 

Die Mehrausgaben für Verteidigung widersprechen allerdings klar dem haushälterischen Trend in Frankreich. Zwei Tage nach Macrons Rede kündigte Premierminister François Bayrou für den Herbst ein umfassendes Sparprogramm für Staatsausgaben in Höhe von rund 44 Milliarden Euro an, um das in den letzten Jahren explodierte Haushaltsdefizit zu reduzieren. Ein Einstellungsstopp für Beamte, die Streichung von gesetzlichen Feiertagen und Reduzierung der Rentenniveaus könnten Teil des Programms sein. Dieser Kontrast zwischen allgemeinem Sparzwang und steigenden Verteidigungsausgaben ist allerdings im Lichte innenpolitischer Konflikte und Sorgen vor einem Wahlsieg der Rechtsaußen-Partei Rassemblement national (RN) bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2027 zu bewerten. Entsprechende Szenarien finden in der neuen RNS erwartungsgemäß zwar keine Erwähnung, stellen für Frankreichs Verbündete aber weiterhin einen Risikofaktor bei der Bewertung der Pläne und möglichen Kooperationen dar.

Russische Bedrohung: Symptom einer neuen Weltordnung

Einen bemerkenswerten Akzent setzte Präsident Macron in seiner Rede an die Streitkräfte am 13. Juli: „Um in dieser Welt frei zu sein, muss man gefürchtet sein. Um gefürchtet zu sein, muss man mächtig sein. Die Nation muss dafür stärker sein, denn es ist in erster Linie an der Nation, die Nation zu verteidigen.“ Dies ist ein anderer Zungenschlag als ihn die Bundesregierung pflegt. Berlin betont stets die Notwendigkeit, an der internationalen regelbasierten Ordnung festzuhalten und die gesamte EU beziehungsweise ganz Europa in Zukunft stärker als Verteidiger dieser Ordnung zu positionieren, anstelle von einzelnen „starken“ Staaten. Dass das Konzept von „Frankreich als Balancemacht“, das in der letzten RNS prominent platziert wurde, in der aktualisierten Version verschwunden ist, wurde von vielen Kommentatoren in Paris positiv aufgenommen. Sich in gaullistischer Tradition als Partnerstaat all jenen anzubieten, die nicht zwischen den Supermächten China und USA entscheiden wollen, bleibt Teil der außen- und sicherheitspolitischen Identität Frankreichs. Die neue RNS stellt das aber nicht mehr offensiv nach außen.

Während das Vorwort der letzten Ausgabe von 2022 trotz der nur wenige Monate zuvor erfolgten Vollinvasion der Ukraine noch davon absah, Russland ausdrücklich als Bedrohung zu bezeichnen, ist in der Präambel der aktualisierten RNS von der „anhaltenden russischen Bedrohung an den Grenzen Europas“ die Rede, die in Zukunft als Konstante einer „Krise der Weltordnung“ erwartet wird. Auch wenn Macron also die französische Russlandpolitik gerne als konsistent darstellt, ist die Benennung Russlands als Bedrohung für die nationale Sicherheit der Nation und nicht „nur“ für die europäische Sicherheitsarchitektur ein Novum. 

Neben Russland werden ausdrücklich Iran und China als strukturelle Bedrohungen hervorgehoben. Dass Iran trotz seiner Schwächung infolge der israelischen Angriffe in Frankreichs neuer Sicherheitsstrategie in puncto Bedrohungswahrnehmung noch vor China genannt wird, ist überraschend und wurde in Frankreich teilweise kritisiert. Eine Interpretationsmöglichkeit für diese Priorisierung ist der gesteigerte Fokus des Élysée auf die direkte Nachbarschaft Europas zu Lasten eigener Ambitionen im indo-pazifischen Raum. 

Unklare Prioritäten: zwischen europäischem Führungsanspruch und globaler Ambition

Die aktualisierte RNS wird von vielen französischen Experten als wesentlich präziser und ausgereifter begrüßt als das Vorgängerdokument. Eine Frage, die für Frankreichs Beitrag zur europäischen – konventionellen wie auch nuklearen – Abschreckung, an erster Stelle gegen Russland, entscheidend ist, bleibt jedoch ungeklärt und wird in absehbarer Zukunft für Diskussionen sorgen: Die französischen Streitkräfte haben sich bisher nicht zwischen der Priorisierung eines europäischen Führungsanspruchs einerseits und einer stärkeren globalen Präsenz Frankreichs andererseits (insbesondere im Indo-Pazifik) entschieden. Folgen der Präsident und seine Regierung in den kommenden Jahren den Empfehlungen der RNS, müssten eine wesentliche Stärkung des Heeres und der Luftwaffe sowie die Unterstützung der Ukraine und der französischen Präsenz an der NATO-Ostflanke folgen. Ein solcher „Pivot to Europe“ ginge aber deutlich zu Lasten der Marine und hätte langfristig Folgen für die französischen Überseegebiete und für die auf maritime Systeme spezialisierten Bereiche der französischen Rüstungsindustrie.

Aufschluss über den weiteren Verlauf dieser Abwägungen dürfte in den kommenden Jahren das Herzstück der französischen maritimen Präsenz geben, der Verband um den nuklear angetriebenen Flugzeugträger Charles de Gaulle. Dieser soll in den 2030er Jahren außer Dienst gestellt und durch einen „Flugzeugträger neuer Generation“ (PANG) ersetzt werden. Es gibt jedoch auch Stimmen, die den Mehrwert des Flugzeugträgers infrage stellen und entsprechende Mittel lieber für die Präsenz auf dem europäischen Kontinent aufwenden würden, etwa für die Anschaffung zusätzlicher Artilleriesysteme oder für die den NATO-Vorgaben genügenden Munitionsvorräte. 

Deutsch-französische Perspektiven und offene Fragen

Die deutschen verteidigungspolitischen Debatten gleichen jenen in Frankreich an vielen Stellen. Integrierte Sicherheit – und die Einbindung ziviler Akteure – bestimmen auch die deutschen Planungen. Die Entscheidung des NATO-Gipfels in Den Haag, Ausgaben für Verteidigung auf 3,5 Prozent des BIP (sowie 1,5% für weitere sicherheitsrelevante Infrastruktur) zu erhöhen, haben in Deutschland Zustimmung gefundenAuch die Einführung einer Wehrpflicht wird diskutiert. Wie in Frankreich war die deutsche Öffentlichkeit zudem zuletzt durch Kommentaredes Generalinspekteurs der Bundeswehr (und Erkenntnissen des Bundesnachrichtendienstes) sensibilisiert, die einen russischen Angriff gegen NATO-Staaten bis 2029 für möglich halten. 

Das Ziel der RNS, Frankreich für einen hochintensiven Krieg auf europäischem Boden bis 2030 vorzubereiten, ist deshalb aus deutscher Perspektive zentral. Dass die neue französische Strategie zugleich an einer globalen Perspektive festhält und entsprechende Zielkonflikte bei der Mittelvergabe und großen Rüstungsvorhaben nach wie vor ungeklärt sind, bleibt aus Sicht der Bundesregierung die entscheidende und zugleich offene Frage: Wird Frankreich seine Kräfte künftig auf die Abschreckung in Europa konzentrieren? Beide Staaten müssen nicht nur diese Frage klären, sondern sich darüber hinaus auch über mögliche Ambitionen und eine Arbeitsteilung in anderen Teilen der Welt abstimmen, nicht nur im Indo-Pazifik, sondern auch im Roten Meer oder gegebenenfalls in Zukunft auch wieder in der Sahel-Region. 

Die aktualisierte RNS erfordert erhöhte Budgets, steht aber auf unsicheren Grundlagen. Während Deutschland über die massive Neuverschuldung große fiskalische Spielräume hat, fehlen Frankreich vergleichbare Mittel. Die RNS fordert deshalb auch Investitionen von der Privatwirtschaft und Start-up-Initiativen. Aktuell stehen die gemeinsame Entwicklung von Hauptwaffensystemen für Land- und Luftstreitkräfte auf dem Spiel: die Zwillingsprojekte „Future Combat Air System“ (FCAS) und „Main Ground Combat System“ (MGCS). Über FCAS soll Ende August beim Treffen des deutsch-französischen Ministerrats neu entschieden werden.

Fazit

Die aktualisierte RNS könnte einen Beitrag zu einer erneuerten europäischen und insbesondere deutsch-französischen Verteidigungskooperation leisten. Die gemeinsame Vorbereitung auf einen möglichen Krieg auf EU- oder NATO-Gebiet und entsprechende langfristige Ressourcenverteilungen, auch für gemeinsame Rüstungsprojekte, müssten der RNS folgen. Frankreich benennt Russland als direkte Bedrohung und gibt das Ziel vor, für hochintensive Gefechte auf dem europäischen Kontinent bis 2030 vorbereitet zu sein. Eine ehrliche Debatte, die nicht nur von politischen Absichtserklärungen, sondern auch entsprechend finanziell unterfüttert ist, müsste jedoch klären, wie sich europäische Ziele mit dem Anspruch auf globale Präsenz und Abschreckungsfähigkeit verbinden lassen. 

Die deutsch-französische Rüstungskooperation steht derzeit weiter dem Ziel der national-souveränen Abschreckung Frankreichs sowie dem transatlantischen Selbstverständnis Deutschlands in Zeiten von Trump 2.0 gegenüber – Schwierigkeiten mit den Rüstungsprojekten FCAS und MGCS sind Fallbeispiele für die Unvereinbarkeit dieser Ziele.

Vor dem Hintergrund der zweiten Trump-Präsidentschaft haben europäische Regierungen einmal mehr die dringende Notwendigkeit, wirtschaftlicher und verteidigungspolitischer Zusammenarbeit betont. Seit mehreren Monaten sprechen Macron und Merz von einem „deutsch-französischem Neustart“. Beide Länder müssen aber zunächst ihre eigenen strategischen Ziele definieren – in Europa und weltweit. Die RNS ist der Anfang eines Dialoges, nicht das letzte Wort. 

Bibliografische Angaben

Ross, Jacob, Emil Archambault, Nicolas Téterchen, and Patrick Keller. “Frankreichs aktualisierte Sicherheitsstrategie und ihre Bedeutung für Deutschland .” DGAP Memo 40 (2025). German Council on Foreign Relations. August 2025.
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