Zwischen globaler und europäischer Identität
Die Kulisse des Ministerrats könnte mit der mediterranen Hafenstadt Toulon nicht besser gewählt sein. 1942 spielte sich hier eine dramatische Episode des Zweiten Weltkriegs ab, als französische Soldaten eigene Schiffe im Hafenbecken versenkten und verhinderten, dass sie deutschen und italienischen Truppen in die Hände fielen. Es ist nur ein Kapitel in der langen Geschichte der Stadt, die heute Heimathafen des Flugzeugträgers Charles de Gaulle ist. Toulon steht seit Jahrhunderten für ein Frankreich, das sich weit über Europa hinaus projiziert: Auf das Mittelmeer, aber auch in die weite Welt. 1798 startete Napoleon Bonaparte hier seinen Ägypten-Feldzug, 1830 stachen Schiffe der Algerien-Expedition in See und lange war Toulon große Garnisonsstadt der französischen Kolonialtruppen. Die Stadtgeschichte steht für einen Teil der außenpolitischen Identität Frankreichs.
Einen anderen Teil hat Macron seit 2017 unter dem Titel der „europäischen Souveränität“ vorangetrieben. Spätestens seit der russischen Vollinvasion der Ukraine formuliert er den Anspruch, eine Führungsrolle beim Aufbau einer verteidigungspolitisch autonomen EU zu übernehmen. Für Bundeskanzler Merz, die Ukraine und weitere europäische Verbündete ist die Frage entscheidend, welche Identität Frankreich in den nächsten Jahren betonen wird: die europäische oder die globale. In Toulon wird diese Frage bei Verhandlungen über die verteidigungspolitische Zusammenarbeit immer im Hintergrund stehen.
Die Mission Clemenceau 25 und das globale Frankreich
Im April 2025 kehrte die Charles de Gaulle von einer mehrmonatigen Mission zurück. Der Flugzeugträger und sein Verband hatten vor allem im Indo-Pazifik operiert, machten dort in mehreren Partnerländern Station. Sechs Monate lang hatte die französische Marine im Rahmen der Mission „Clemenceau 25“ vier politisch definierte strategische Ziele verfolgt:
- Die Schiffe unterstützten nationale und europäische Operationen im Mittelmeer, Roten Meer und indischen Ozean, trugen zur Stärkung maritimer Sicherheit bei.
- Bei mehreren Übungen mit Partnerstreitkräften wurde besonders im Indo-Pazifik die technische und taktische Interoperabilität eingeübt.
- Die Präsenz des Verbandes unterstrich zudem den völkerrechtlichen Anspruch auf einen „freien, offenen und stabilen“ Indo-Pazifik (vor allem gegenüber China).
- Schließlich sendeten die Charles de Gaulle und ihre Begleitschiffe ein Signal zum Schutz des französischen Staatsgebietes und der Bevölkerung im Indo-Pazifik.
Die Übungen im Rahmen der Mission lassen Frankreichs Ambitionen erahnen: Im Januar bildete der Verband den Kern der multinationalen Übung „LA PEROUSE 25“, an der neun indo-pazifische Anrainerstaaten teilnahmen. Im Februar folgte die zehntägige Übung „PACIFIC STELLER“ in der Philippinensee, an der unter anderem japanische und amerikanische Schiffe teilnahmen. Im März folgte schließlich die indisch-französische Übung „VARUNA“, die die bilateralen Übungen der Land- und Luftstreitkräfte beider Länder ergänzte.
Frankreichs indo-pazifische Ambitionen
Besonders die letzte Übung steht stellvertretend für die globalen Ambitionen Frankreichs. 2024 war unser westlicher Nachbar der zweitgrößte Waffenexporteur der Welt und Indien einer der wichtigsten Abnehmer französischer Rüstungsgüter. Dass Neu-Delhi den Kauf von Kampfflugzeugen, U-Booten und Hubschraubern zugesagt hat, sichert in Frankreich für die nächsten Jahre tausende Arbeitsplätze und der Industrie Dutzende Milliarden Euro. Entsprechend wertvoll sind Flugzeugträger, Begleitschiffe und weitere Einzelsysteme aus französischer Perspektive. In Paris wird der Verband als globale „Vitrine“ der heimischen Rüstungsindustrie gesehen.
Aus politisch-strategischer Sicht sind der Flugzeugträgerverband und die erfolgreichen Rüstungsexporte aber nur Mittel zur Erreichung eines höheren Ziels: den eigenen Einfluss in der Welt zu erhalten oder, wo möglich, zu stärken. Emmanuel Macron pflegt seit 2017 große Ambitionen im Indo-Pazifik. Rückschläge wie die AUKUS-Affäre (2021), in deren Zuge die USA, Großbritannien und Australien Paris nach Geheimverhandlungen von einem Regionalbündnis und milliardenschweren Geschäften ausschlossen, haben diese Ambitionen nicht gebremst. Die enge Partnerschaft mit Indien, Gründungsmitglied der BRIC(S)-Staaten, unterstreicht das.
Analysten fragen mit Blick auf die Streitkräfte und den Haushalt Frankreichs zu Recht, wie Macrons Ambitionen – im Indo-Pazifik und in Europa – gleichzeitig funktionieren sollen.
Frankreichs europäische Verpflichtungen
Weit weg von Toulon und Indien hat Frankreich auch auf dem europäischen Kontinent Verpflichtungen. 2023 wurde im nordfranzösischen Lille ein neues Heereskommando gegründet, das im Ernstfall Truppen auf europäischen Schlachtfeldern und besonders an der NATO-Ostflanke führen soll. Das Kommando steht für Frankreichs Führungsanspruch. Zwischen Lille im Norden und Toulon im Süden liegen rund 1.000 Kilometer – geografisch und geopolitisch stehen die beiden Städte für eine Doppelambition, die deutschen und weiteren europäischen Partnern Frankreichs Sorgen bereiten muss.
Analysten fragen mit Blick auf die Streitkräfte und den Haushalt Frankreichs zu Recht, wie Macrons Ambitionen – im Indo-Pazifik und in Europa – gleichzeitig funktionieren sollen. 2018 hatte der Präsident mit seiner Indo-Pazifik-Strategie (seither mehrmals aktualisiert) einen wichtigen verteidigungspolitischen Akzent der ersten Amtszeit gesetzt. Die zweite Amtszeit ist nun seit 2022 vor allem von den Konsequenzen der russischen Vollinvasion der Ukraine geprägt. Macron hat die eigene Russlandpolitik revidiert, die zu Beginn seiner Präsidentschaft offensiv kommunizierte Idee, Russland in eine gemeinsame europäische „Sicherheitsarchitektur“ einzubinden, ist vergessen. Mit der Bratislava-Rede im Mai 2023 signalisierte Macron seinen osteuropäischen Partnern stattdessen die Bereitschaft, sich in Zukunft stärker für ihre Sicherheit zu engagieren: ein französischer Pivot to Europe also?
Tatsächlich hat Frankreichs Diplomatie in den vergangenen Jahren eine ganze Serie neuer und erneuerter Abkommen in Europa verhandelt: angefangen mit Deutschland (2019), dann mit Italien (2021) und Spanien (2023) und zuletzt mit Polen (Mai) und Großbritannien (Juli). Sie alle enthalten Absichtserklärungen auch zur Ausweitung der verteidigungs- und rüstungspolitischen Zusammenarbeit. Zudem hat Macron mehrfach sein 2020 erstmalig unterbreitetes Angebot erneuert, die „europäische Dimension“ seiner Nuklearwaffen zu erweitern und einen „strategischen Dialog“ mit interessierten Partnern zu beginnen.
Deutsche und europäische Zweifel an französischen Führungsansprüchen
Doch trotzdem zweifeln Deutschland und viele Europäer an der Glaubwürdigkeit der „strategischen Autonomie“ und „europäischen Souveränität“ unter Führung Frankreichs. Das hat drei Hauptgründe: einen historischen, ökonomischen und identitären.
Historisch ist Frankreich das einzige europäische Land, das sich seit dem Zweiten Weltkrieg für eine verteidigungspolitisch souveräne Entwicklung entschieden hat. Untermauert wurde das durch den Austritt aus dem militärischen Kommando der NATO im Jahr 1966 und die Entwicklung eigener Nuklearwaffen. Dieses Erbe ist heute Vor- und Nachteil zugleich. Vorteil, weil sich Frankreich einen eigenständigen Blick auf die Welt bewahrt hat, der nicht – wie in Berlin – immerfort durch ein transatlantisches Prisma gebrochen wird und entsprechend unsouverän ist. Nachteil deshalb, weil genau diese Eigenständigkeit eine Kultur absolut nationaler Souveränität geformt hat, die multilateralen Formaten häufig misstrauisch begegnet und nach außen arrogant und wenig vertrauenerweckend wirken kann. Daher werden hinter dem europäischen Führungsanspruch häufig nationale Ambitionen vermutet.
Der ökonomische Grund liegt aktuell auf der Hand. Am 13. Juli kündigte Macron die neuerliche Anhebung der Verteidigungsausgaben an, die nun statt bis 2029 schon bis 2027 (also dem Ende seiner Amtszeit) auf 64 Milliarden Euro (rund 2,5% des BIP) steigen sollen – eine gute Nachricht für alle Staaten Europas, die eine Bedrohungsanalyse mit Blick auf Russland teilen. Nur zwei Tage später trat aber Premier François Bayrou vor die Presse und verkündete einschneidende Sparmaßnahmen für den Herbst. Die Rede unterstrich, dass Paris keine fiskalischen Spielräume mehr hat, um Verteilungskonflikten zwischen Sozial- und Verteidigungsausgaben auszuweichen – anders als Berlin. Für den Herbst und den Präsidentschaftswahlkampf 2027 kündigen sich schwierige Abwägungen und heftige Konflikte an, die das Vertrauen in französische Führung nicht stärken dürften.
Was die Identitätsfrage angeht, so liegt der Grund für deutsche und europäische Skepsis angesichts französischer Führungsansprüche tiefer als die derzeitigen ökonomischen Probleme und ist schwieriger zu entkräften. Die Zerrissenheit zwischen europäischem Führungsanspruch und globaler Ambitionen spiegelt nicht nur den Abstand zwischen geopolitischen Ansprüchen und fiskalischen Realitäten wider. Sie betrifft die außen- und sicherheitspolitische Identität Frankreichs, die seit den 1950er Jahren wohl nur selten unter ähnlich großen Spannungen stand. Viele Experten sind sich einig, dass Macron – und auch jeder andere Präsident – nur eine der zwei für Frankreich definierten Ziele verwirklichen kann: Entweder Führungsmacht eines souveränen Europas oder Festhalten an globalen Ambitionen – als Alternative für Staaten, die dem bipolaren Wettstreit zwischen China und den USA entgehen möchten. Als wichtigster Partner sollte Deutschland auf die europäische Verantwortung Frankreichs drängen.
Will sie das europäische Frankreich stärken, wäre die Bundesregierung in Toulon gut beraten, ein klares Bekenntnis zur europäischen Souveränität zu geben.
Deutsche Signale sind ausschlaggebend
Die Zerrissenheit zwischen diesen Zielen prägt die gerade erneuerte Sicherheitsstrategie Frankreichs (revue nationale stratégique 25). Aus deutscher Sicht dürfte für Erleichterung sorgen, dass das Balancemacht-Konzept, das die vorherige Version von 2022 maßgeblich geprägt hatte, in der neuen Version wieder verschwunden ist. Wegen seiner historischen Anlehnung an gaullistische Konzepte des „dritten Wegs“ hatte es für viel Kritik gesorgt. In Europa – und Deutschland – konnte man es als Abrücken von der klaren Positionierung im Krieg zwischen der Ukraine und Russland interpretieren. Und mit Blick auf den Indo-Pazifik hält die Mehrheit der Analysten eine souverän-französische Position spätestens seit der AUKUS-Affäre ohnehin für vermessen. Nun ist die Balancemacht verschwunden und Russland wird erstmals als Bedrohung der nationalen Sicherheit Frankreichs benannt.
In Toulon sollten Friedrich Merz, sein Außenminister und sein Verteidigungsminister also genau hinhören, wenn es um Außen- und Verteidigungspolitik geht. Die Abwägung zwischen dem globalen und dem europäischen Frankreich prägt viele Entscheidungen, die für Deutschland zentral sind. Die Bundesregierung braucht ein europäisches Frankreich, um die enge bilaterale Partnerschaft mit dem Nachbarland in den kommenden Jahren zu vertiefen. Die Zukunft der Zwillings-Rüstungsprojekte Future Combat Air System (FCAS) und Main Ground Combat System (MGCS) ist derzeit ungewiss, besonders FCAS könnte scheitern und damit auch MGCS gefährden. Beide waren als strukturierende Plattformen für die Land- und Luftstreitkräfte der Zukunft Deutschlands und Frankreichs gedacht. Scheitern sie, scheitert Macrons Ambition von 2017, Frankreich zu europäisieren und Europa autonomer zu machen. Wie Macron und seine Nachfolger sich am Ende entscheiden, dürfte maßgeblich von den Signalen abhängen, die in naher Zukunft von deutsch-französischen Initiativen ausgehen.
Will sie das europäische Frankreich stärken, wäre die Bundesregierung in Toulon gut beraten, ein klares Bekenntnis zur europäischen Souveränität zu geben. Als Friedrich Merz am 23. Februar in der Elefantenrunde die Unabhängigkeit von den USA als „absolute Priorität“ der Kanzlerschaft ausgab, weckte er damit große Hoffnungen in Paris. Werden die enttäuscht, entlarvt das Macrons enthusiastische Vision von 2017 für die EU und Europa als Wunschdenken. Er und seine Nachfolger könnten dann versucht sein, sich von Europa ab- und dem offenen Meer zuzuwenden – ganz ähnlich wie Großbritannien 2016.
Ein Fahrplan bis September 2026
In Toulon wird zum Ende der europäischen Sommerpause auch das letzte Jahr eingeleitet, das Macron effektiv im Amt verbleibt. Spätestens ab September 2026 wird der Präsident, der die französische Außen- und Sicherheitspolitik über knapp zehn Jahre geprägt haben wird, in der heißen Phase des Präsidentschaftswahlkampfs zunehmend an Gewicht verlieren. Die Bundesregierung täte gut daran, im verbleibenden Jahr folgende Prioritäten zu setzen:
Stärkung des europäischen Frankreichs: Macron und die Europa-Priorisierer, darunter Europaminister Benjamin Haddad, sind dringend auf positive Signale der deutsch-französischen Kooperation angewiesen. Kommen die nicht, geraten sie innen- und außenpolitisch in die Defensive. MGCS und FCAS etwa müssen 2026 substanzielle Fortschritte machen, sonst drohen beide Projekte zu scheitern.
Ernsthaftigkeit im „strategischen Dialog“: Vielen bilateralen Gesprächen, den Konsultationen zur nuklearen Abschreckung zum Beispiel, fehlte bisher die letzte Ernsthaftigkeit, weil auch die neue US-Administration ihre nuklearen Garantien nie wirklich infrage gestellt hat. Solche Szenarien sollten aber deutsch-französisch immerhin durchgespielt werden, um echtes Interesse zu bekunden.
Koordinierung an der Ostflanke: Bisher haben Vertreter beider Länder gerne betont, wie sehr sich die Visionen beim Aufbau des „europäischen Pfeilers innerhalb der NATO“ unterscheiden. Deutschland orientiert sich in Litauen stark an den USA, Frankreich testet in Rumänien die Grenzen des post-amerikanischen Europas – hier tut mehr bilateraler Austausch Not.
Abschließend sei daran erinnert, dass Macron 2017 mit einem offensiv Pro-EU-europäischen Wahlkampf den Trend des Brexits (Juni) und der Trump-Wahl (November 2016) stoppte. Die politischen Kräfte, die hinter diesen Ereignissen standen, sind heute stärker denn je. Sieht man sich in Frankreich um emanzipationswillige Partner in Berlin und die Ambition eines souveränen Europas betrogen, darf aus Paris in den kommenden Jahren kein großer Widerstand gegen den Rückzug ins Nationale erwartet werden.
