Russlands Ausdauer in der Ukraine
Die russische Führung ist entschlossen, den Krieg gegen die Ukraine fortzusetzen. Sie ist fest davon überzeugt, dass die Unterstützung des Westens für die Ukraine nachlassen und die russische Armee die Ukraine besiegen wird. Putins vorrangiges Ziel ist ein politisch-militärischer Sieg über die Ukraine – keineswegs eine ausgehandelte, kompromissbasierte Lösung. Russland nimmt somit nur deshalb an Gesprächen über Waffenstillstandsverhandlungen teil, um den Westen zu spalten und seine militärische Position zu stärken.
Die Fortführung des Krieges ist von entscheidender Bedeutung für das Überleben des Putin-Regimes. Die „spezielle Militäroperation“ sowie die Erzählungen, die den Krieg als existenziellen Kampf für Russland darstellen, dienen der Legitimierung einer noch stärkeren Kontrolle über die Gesellschaft und der weiteren Militarisierung der Wirtschaft.
Kurzfristig ist kein militärischer Kipppunkt in Sicht. Trotz steigender Verluste in der Ukraine sind die Rekrutierungsbemühungen der russischen Armee hinreichend erfolgreich, um Gefechtsverluste auszugleichen und neue Einheiten aufzubauen. Russland wird voraussichtlich in der Lage sein, die Stärke seiner Streitkräfte bis spätestens Mitte 2026 auf 1,5 Millionen Soldaten zu erhöhen. Verluste an militärischem Gerät werden größtenteils durch die Reaktivierung ehemaliger sowjetischer Waffensysteme kompensiert. Bei der derzeitigen Intensität der Kampfhandlungen dürften die Bestände in den kommenden zwei bis drei Jahren nicht erschöpft sein.
Darüber hinaus kann Putin auf die anhaltende Unterstützung Nordkoreas zählen, insbesondere in Form von Munition, sowie auf die vielschichtige wirtschaftliche und technologische Unterstützung aus China. Diese umfasst wesentliche Rüstungskomponenten, Rohstoffe und Dual-Use-Technologien. Was die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit betrifft, ist Russland kurz- bis mittelfristig sicherlich in der Lage, den Krieg fortzuführen – das System verfügt weiterhin über Reserven.
Was Russland von einem Angriff auf das Baltikum abhält
Zwei entscheidende Faktoren bestimmen die militärische Sicherheit der baltischen Staaten und Polens. Die erste ist die Intensität des Krieges gegen die Ukraine, die zweite die dauerhafte Präsenz von US-Truppen in diesen Ländern. In Bezug auf die erste Variable gilt: Solange der Krieg mit der derzeitigen Intensität andauert, verfügt Russland weder über die Truppen noch über die Waffen, die für einen groß angelegten militärischen Angriff auf die nordöstliche Flanke der NATO erforderlich wären. Sollte die Kampfintensität jedoch nachlassen oder der Krieg enden, könnte Russland bereits in wenigen Monaten in der Lage sein, einen kleineren Angriff auf ein oder zwei Grenzregionen durchzuführen (zum Beispiel auf das estnische Narva).
Eine gewisse Abstreitbarkeit („Deniability“) würde es Russland ermöglichen, die Operation rasch abzubrechen, sollte es auf militärischen Widerstand stoßen. Selbst ein kleinräumiger, abstreitbarer Angriff könnte durch konventionelle wie auch nukleare Abschreckung gestützt werden. Es dürfte jedoch bis zum Ende dieses Jahrzehnts dauern, bis Moskau seine Streitkräfte soweit wiederaufgebaut hat, dass sie in einem umfassenden konventionellen Krieg eine realistische Chance gegen die NATO hätten.
Die zweite Variable betrifft die Präsenz von US-Truppen in den baltischen Staaten und in Polen. Erstmals im Jahr 2015 auf rotierender Basis stationiert, sind derzeit etwa 1.700 US-Soldaten in jedem der drei baltischen Staaten sowie rund 14.000 in Polen eingesetzt. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Moskau ein Vorgehen – ob offen oder verdeckt – riskieren würde, das zu einer offenen, bewaffneten Konfrontation mit US-Truppen führen könnte.
Sollten die Vereinigten Staaten jedoch ihre Truppen aus dem Baltikum und Polen abziehen oder berechtigte Zweifel an der Bereitschaft der Trump-Regierung aufkommen, Artikel 5 des NATO-Vertrags zu erfüllen, könnte Russland dies durchaus als Gelegenheit betrachten. Konkret könnte es die Entschlossenheit des Bündnisses testen, „jeden Zentimeter“ seines Territoriums zu verteidigen.
Solange jedoch die Ukraine weiterhin kämpft und US-Truppen im Baltikum präsent sind, ist das Risiko eines begrenzten und verdeckten russischen Militärangriffs gering. Dennoch besteht die Gefahr möglicher Fehleinschätzungen seitens des Kremls. Angesichts der zunehmend autoritären, starren und monopolisierten Entscheidungsstrukturen in Russland kann nicht ausgeschlossen werden, dass Putin sich für einen – insbesondere kleinräumigen, rasch organisierbaren – Angriff entscheidet.
Deutschlands Rolle bei der Abschreckung eines russischen Angriffs
Auch wenn es höchst unwahrscheinlich ist, dass Russland einen Angriff auf NATO-Gebiet unternimmt, solange ein Großteil seiner Streitkräfte in der Ukraine gebunden ist, sollte der Westen nicht davon ausgehen, dass die Führung in Moskau abwartet, bis ihre Armee vollständig wiederaufgebaut ist, bevor er zu weiteren Handlungen schreitet. Der Kreml könnte versucht sein, bestehende Spannungen innerhalb der NATO auszunutzen und Ängste vor einer nuklearen Eskalation zu instrumentalisieren – ein Thema, das insbesondere in Deutschland in der Vergangenheit auf große Resonanz gestoßen ist.
Keineswegs darf abgewartet werden, bis Russland seine Armee wieder vollständig aufgebaut hat
Deutschland hat daher ein besonderes Interesse daran, ein solches Szenario zu verhindern. Um die nordöstliche Flanke der NATO – auch kurzfristig – zu stärken, sollte die Regierung in Berlin folgende Maßnahmen ergreifen:
Politische Ebene
Die Bundesregierung sollte ihre Kommunikationsstrategie gegenüber dem Kreml auf vier zentralen Pfeilern aufbauen – in enger Abstimmung mit ihren europäischen Verbündeten:
- Die Botschaft an Moskau muss lauten, dass ein Angriff auf die baltischen Staaten als Aggression gegen die gesamte NATO gewertet würde. Um zu unterstreichen, dass die baltischen Staaten integraler Bestandteil des Bündnisses sind, sollten deutsche Entscheidungsträger daher davon absehen, sie als potenziell separates Ziel russischer Aggression darzustellen.
- Es muss Moskau unmissverständlich klargemacht werden, dass sich Deutschland und seine Verbündeten von Russland nicht einschüchtern lassen – auch nicht durch aggressive nukleare Drohgebärden.
- Ebenso muss deutlich werden, dass Deutschland alles Notwendige unternehmen wird, um zur Verteidigung der nordöstlichen Flanke der NATO beizutragen.
- Dazu gehört auch, dass militärische Operationen auf russisches Territorium ausgeweitet würden, sollte Russland es wagen, die NATO anzugreifen. Eine solche Botschaft – wenn sie konsequent und mit Nachdruck vermittelt wird – könnte beeinflussen, wie Russland Deutschland und die übrigen europäischen NATO-Mitglieder wahrnimmt. Gleichzeitig könnte sie dazu beitragen, die öffentliche Meinung in Deutschland zugunsten einer entschlosseneren Unterstützung der Verteidigung der NATO-Verbündeten zu verändern.
Fähigkeiten-Ebene
Im Hinblick auf Fähigkeiten und Logistik lassen sich mehrere Prioritäten identifizieren, und es wird erwartet, dass Deutschland einen Teil der dringend benötigten Kapazitäten bereitstellt.
- An oberster Stelle der Fähigkeitsliste stehen Systeme zur Luft- und Raketenabwehr (Air and Missile Defense, AMD) sowie Aufklärungs-, Überwachungs- und Nachrichtengewinnungskapazitäten (Intelligence, Surveillance and Reconnaissance, ISR), einschließlich weltraumgestützter Systeme. Zudem besteht ein dringender Bedarf an weitreichenden Feuerunterstützungssystemen, um die Abschreckungs- und Verteidigungsmission entlang der nordöstlichen Grenze des Bündnisses zu stärken. Darüber hinaus werden gepanzerte Mannschaftstransporter und Schützenpanzer benötigt – beides Waffensysteme, über die Deutschland verfügt. Einige dieser Fähigkeiten, darunter auch Luft- und Raketenabwehrsysteme, sollen im Rahmen der deutschen Entscheidung, dauerhaft eine Brigade in Litauen zu stationieren, dort zum Einsatz kommen.
- Deutschland muss darüber hinaus weitere Maßnahmen einleiten, um wichtige Versorgungsgüter und Ausrüstung in Logistikhubs vorzupositionieren. Ziel ist es, sowohl eine schnelle Reaktionsfähigkeit gegenüber möglicher russischer Aggression als auch eine operative Widerstandsfähigkeit sicherzustellen. Der Hintergrund: Sollte sich ein Konflikt abzeichnen, könnte Russland seine in Kaliningrad stationierten Luftabwehr-, Artillerie- und elektronischen Waffensysteme im Rahmen seiner A2/AD-Strategie (Anti-Access/Area Denial) einsetzen, um Truppen- und Materialverlegungen der NATO in die baltischen Staaten zu verhindern. In einem Kriegsszenario könnte Moskau zudem den nur 65 Kilometer breiten Suwalki-Korridor zwischen Polen und Litauen blockieren. Dies würde NATO-Verstärkungen verzögern und der Allianz möglicherweise schwere Verluste zufügen. Infolgedessen – und analog zu dem, wozu sich Berlin selbst verpflichtet hat – sollte Deutschland die beiden weiteren Rahmennationen im Baltikum, Kanada und das Vereinigte Königreich, dazu bewegen, ebenfalls dauerhaft Brigaden in Lettland bzw. Estland zu stationieren.
- Da der groß angelegte Krieg in der Ukraine die russischen Streitkräfte derzeit vom Baltikum fernhält, ist es für Deutschland von entscheidender Bedeutung, die militärische Unterstützung für Kiew aufrechtzuerhalten – und idealerweise auszubauen. Dies gilt sowohl für bilaterale Maßnahmen als auch für multilaterale Aktivitäten, insbesondere im Rahmen der NATO und der „Koalition der Willigen“.
Industrie-Ebene
- Die Bundesregierung muss dringend die bürokratischen Hürden im gesamten Ökosystem der deutschen Verteidigungsindustrie abbauen, da der Verkauf von Waffensystemen an die Bundeswehr deutlich komplizierter ist als der Export an internationale Kunden. Die von der Ampelregierung im Dezember 2024 verabschiedete Nationale Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie enthält mehrere Maßnahmen zu diesem Zweck. Deren Umsetzung sollte von der neuen Regierung prioritär vorangetrieben werden.
- Deutschland sollte eine stärkere europäische Perspektive einnehmen, indem es minilaterale Kooperationsformate in der industriellen Zusammenarbeit fördert, anstatt sich übermäßig auf EU-interne Mechanismen zu stützen, die oft als langsam und schwerfällig gelten. Eine bessere Abstimmung der Produktionsaktivitäten zwischen NATO- und EU-Staaten könnte Doppelstrukturen vermeiden. In jedem Fall ist Interoperabilität bei allen an unterschiedliche Nationen gelieferten Verteidigungssystemen von zentraler Bedeutung und erfordert eine Harmonisierung von Schnittstellen und technischen Standards.
- Deutschland muss dazu beitragen, dass Europa seine Souveränität über die gesamte Lieferkette zurückerlangt, um langfristig Resilienz und strategische Autonomie in der Rüstungsproduktion zu gewährleisten. Dementsprechend sollten die Exportbestimmungen in den europäischen Ländern harmonisiert werden, um einen vorhersehbareren und effizienteren Rahmen für den Waffenhandel und die Zusammenarbeit in diesem Bereich zu schaffen.