Hintergrund
Am 24. Februar 2022 überfällt Russland die Ukraine. Die deutsche Politik und Öffentlichkeit sind noch in Schockstarre, als Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar in seiner Regierungserklärung zur „Zeitenwende“ eine Expressmodernisierung der Bundeswehr ankündigt, die, laut dem damaligen Generalinspekteur Alfons Mais, zu diesem Zeitpunkt „mehr oder weniger blank dasteht“.
Bislang besteht diese sicherheits- und verteidigungspolitische Zeitenwende aus dem 100 Milliarden Euro starken Sondervermögen zur Modernisierung und dem Osnabrücker Erlass zur Umstrukturierung der Bundeswehr. Diesen Prozess will die voraussichtlich von Friedrich Merz angeführte, kommende Bundesregierung mit einem massiven Investitionsprogramm fortführen. Das milliardenschwere Paket für Verteidigung und Infrastruktur hat unter anderem zum Ziel, die Bundeswehr für ein Szenario wie den Verteidigungs- und Bündnisfall ausreichend auszustatten und aufzustellen. Doch für einen wirksamen Einsatz braucht es deutlich mehr als rein militärische Reformen.
Mit Blick darauf hat die Ampelkoalition 2023 eine erste Nationale Sicherheitsstrategie für Deutschland verabschiedet. Diese fordert einen „integrierten“ Ansatz in Sicherheits- und Verteidigungsfragen – und strebt somit einen Wandlungsprozess an, der die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik neben militärischen Fähigkeiten auch durch eine ausgeprägte zivile Resilienz gewährleistet. Das Wahlprogramm der Union sieht vor, diese Sicherheitsstrategie einer Überprüfung zu unterziehen, um sie der dynamischen Bedrohungslage anzupassen. In seiner Rede vor der Körber-Stiftung im Januar 2025 erklärte Merz, er wolle klare Prioritäten setzen, die den nationalen Interessen Deutschlands entsprechen.
Auch nach der Wahl und Regierungsbildung bleibt klar: Eine der Prioritäten in der Verteidigungspolitik sollte es sein, neben administrativen Reformen für die militärische und zivile Verteidigung auch ein allgemeines Krisenbewusstsein auszubilden beziehungsweise zu schärfen.
Herausforderung: Einen Mentalitätswechsel in der Bevölkerung vorantreiben
Die zivile Resilienz beziehungsweise Wehrhaftigkeit ist in Deutschland weder auf administrativ-operationeller noch auf gesellschaftlicher Ebene ausgeprägt. Ihre Wichtigkeit liegt auf der Hand: Durch hybride Bedrohungen wie Cyberattacken, Desinformation oder Sabotageakte sind private und staatliche Strukturen sowie die Zivilbevölkerung direkten Angriffen ausgesetzt.
Forderungen und staatliche Bemühungen um eine „Zeitenwende im Zivilschutz“ drehen sich bislang darum, die Kapazitäten von Behörden und Operateuren des Zivilschutzes anzupassen und zu steigern. Gerade in der Bundesrepublik braucht es jedoch ebenfalls einen Mentalitätswechsel in der Bevölkerung, der eine Sensibilisierung für die aktuelle Bedrohungslage anstrebt.
Dafür bietet es sich an, sich an bereits existierenden Modellen im europäischen Ausland zu orientieren.
Schweden: zivile Resilienz institutionell sowie individuell erreichen
Ein Blick in die skandinavischen Länder liegt nahe und prägt immer wieder auch die deutsche Debatte. Hier gibt es bereits konkrete Konzepte und Umsetzungen, um zivile Resilienz institutionell sowie individuell zu fördern: So stellte Carl-Oskar Bohlin, der schwedische Minister für zivile Verteidigung, auf der Berlin Security Conference im November 2024 die Broschüre If crisis or war comes vor, die der individuellen Vorbereitung der Bevölkerung für einen potenziellen Verteidigungsfall dient. Seitdem dient die Broschüre in Fachkreisen als Beispiel, wie auch die deutsche Bevölkerung auf eine solche Situation vorbereitet werden könnte. Sie enthält sowohl praktische Informationen, beispielsweise zur Verteilung der „Civil defence shelter“ im Land, als auch Leitlinien und grundsätzliche politische Einstellungen: „If Sweden is attacked, we will never surrender. Any suggestion to the contrary is false.“
Frankreich: Culture du risque – kontinuierliche Sensibilisierung auf individueller Ebene
Auch der Blick nach Frankreich, zu Deutschlands engstem europäischen Verbündeten, lohnt sich. Bereits der Élysée-Vertrag stellt eine bilaterale Kooperation in der zivilen Verteidigung in Aussicht. Darin heißt es: „Die Regierungen prüfen die Voraussetzungen, unter denen eine deutsch-französische Zusammenarbeit auf dem Gebiet des zivilen Bevölkerungsschutzes hergestellt werden kann.“ Der französische Staat verfolgt in seinen Sensibilisierungsvorhaben einen ganzheitlichen Ansatz, über den nicht nur ein Fachpublikum, sondern vor allem die breite Bevölkerung erreicht und für die Wichtigkeit der Themen gewonnen werden kann. Hier könnte Deutschland als Partnerland gut andocken und aus Frankreichs Erfahrungen lernen.
Dass Deutschland großen Sensibilisierungsbedarf in Sicherheits- und Verteidigungsthemen hat, ist sicher. Frankreich hat im Jahr 2020 einen Aktionsplan zur Bevölkerungssensibilisierung ausgerufen, der zwar eine andere gesellschaftliche Herausforderung thematisiert, in seinen Strukturen jedoch als Blaupause für die in Deutschland notwendigen Maßnahmen dienen kann.
Der Aktionsplan „Tous résilients face au risque“ („Alle resilient gegenüber Risiken“) sensibilisiert für die Folgen des Klimawandels und umfasst verschiedene breitenwirksame Maßnahmen. Diese werden auf möglichst individueller Ebene kommuniziert, beispielsweise durch Werbespots in den sozialen Medien oder Warn-SMS. So wird ein kontinuierlicher und persönlicher Bezug zum Thema hergestellt.
Dass Deutschland großen Sensibilisierungsbedarf in Sicherheits- und Verteidigungsthemen hat, ist sicher.
Diesem Prinzip folgend hat das französische Umweltministerium in den vergangenen Jahren mit Erfolg Informationskampagnen zur Waldbrandprävention veröffentlicht. Diese werden mehrmals im Jahr an Haushalte in der Nähe von Gefahrenzonen versandt. Sie ermöglichen es in erster Linie, die Bevölkerung zu sensibilisieren und enthalten darüber hinaus konkrete Aufforderungen und Anleitungen zu verschiedenen individuell durchführbaren Präventionsmaßnahmen (zum Beispiel zur korrekten Entlaubung zu verschiedenen Jahreszeiten).
Somit ist es für die Adressaten möglich, eine konstante Verbindung ihrer persönlichen Lebenslage mit der Bedrohungseinschätzung herzustellen. Die skizzierten Handlungsansätze ermöglichen ihnen, sich unmittelbar mit der Situation auseinanderzusetzen. Durch eine kontinuierliche und individuelle Informationsvergabe wird somit peu à peu eine „culture du risque“ („Risikokultur“) geschaffen: Die Bevölkerung erfährt nicht nur von der Bedrohungslage, ihr werden konkrete Handlungsansätze geboten, um der Bedrohung zu begegnen.
Bezogen auf die Sensibilisierung der deutschen Gesellschaft zu Verteidigungsfragen und Zivilschutz würde eine solche Methode in erster Linie erfordern, der Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, das ungefähre Gesamtmaß der Bedrohungslage abzuschätzen. So würde eine zentrale, öffentlich zugängliche Übersicht zu hybriden Angriffen, beispielsweise in Kartenform, helfen, die Bedrohungslage anschaulich zu vermitteln. Dies würde der existierenden Verunsicherung in der Gesellschaft einen klaren Namen geben.
Zudem wäre es hilfreich, die Bevölkerung regelmäßig über hybride Angriffe in ihrer jeweiligen Nähe zu informieren. Auch politische Reaktionen und Abwehrmaßnahmen sollten in diesem Zusammenhang transparent kommuniziert werden, um ein besseres Gesamt-Lagebild zu vermitteln. So ließe sich etwa die Bedrohungslage in der Ostsee – etwa durch Sabotageakte an Unterseekabeln oder Pipelines – gemeinsam mit den ergriffenen Gegenmaßnahmen wie der Festsetzung verdächtiger Schiffe oder der Entsendung der CTF-Baltic anschaulich darstellen.
Generationsspezifische Sensibilisierung
Neben der Etablierung einer „culture du risque“, einer „Risikokultur“, will die französische Regierung gerade bei der jungen Generation ein nachhaltiges Bewusstsein für die Themen Staatsbürgerschaft und Sicherheitspolitik entwickeln. Hierfür wurde 2017 die Einführung eines einmonatigen freiwilligen Staatsdienstes beschlossen. Ziel des Service National Universel (SNU, Allgemeiner Nationaldienst) war es, jungen Menschen eine Plattform zu geben, um gesellschaftlichen und nationalen Zusammenhalt, die Rolle des Staates, Sicherheits- sowie Verteidigungsthemen und den Wert des eigenen Engagements für den Staat zu diskutieren. Zwar musste das Programm Ende 2024 aus Budgetgründen beendet werden, doch stetig gestiegene Teilnehmerzahlen hatten bereits bewiesen, dass die angesprochene Bevölkerungsgruppe durchaus den Bedarf hat, sich mit diesen Themen auseinander zu setzen und sich der politischen Verunsicherung entgegenzustellen.
Aufgrund dieser Resonanz plant der französische Verteidigungsminister Sébastien Lecornu, die ebenfalls existierende Journée défense et citoyenneté (JDC, „Tag der Verteidigung und Staatsbürgerschaft“), – ein eintägiges, verpflichtendes Programm, das junge Menschen bis 25 für das militärische Engagement sensibilisieren soll, – auszuweiten und der aktuellen weltpolitischen Lage anzupassen. Nicht zuletzt ist es die JDC, die es dem französischen Militär ermöglicht hat, trotz ausgesetztem Wehrdienst, einen kontinuierlichen Kontakt zur jungen Generation zu erhalten.
Der Erfolg der JDC zeigt, dass die viel debattierte Dienstpflicht auch in kleinerem Umfang als einem vollen Jahr bereits zur Sensibilisierung für gesellschaftsrelevante Themen beitragen könnte. Ein solches Format kann helfen, ein erstes Bewusstsein für Sicherheits- und Verteidigungsfragen in der Zivilbevölkerung zu verankern, ohne dass das Land mit dem administrativen und finanziellen Aufwand eines einjährigen Staats- oder Wehrdienstes konfrontiert wäre.
Fazit
Für die kommende Bundesregierung heißt dies, dass es neben der Weiterführung von Reformen rund um die militärische und zivile Verteidigung notwendig ist, ein gesamtgesellschaftliches Krisenbewusstsein zu etablieren. Um dies zu erreichen, kann ein Blick auf Partnerländer wie Schweden und Frankreich Beispiele für mögliche Herangehensweisen liefern. Frankreich etwa setzt auf eine Sensibilisierung auf möglichst individueller Ebene und verknüpft dies mit der Kommunikation eines Gesamt-Lagebildes. Eine solche Herangehensweise könnte auch hierzulande zielführend sein.